Geschrieben am 13.11.2016 von:
Felix Thiemann
Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung: Was geht eigentlich vor?
Immer wieder werde ich gefragt, in welchen Fällen Arbeitsverträge Betriebsvereinbarungen vorgehen und in welchen Fällen es andersherum ist.
Gemäß § 77 IV BetrVG wirken Betriebsvereinbarungen unmittelbar und zwingend für das Arbeitsverhältnis. Dieser Grundsatz wird durch das Günstigkeitsprinzip modifiziert: Das Günstigkeitsprinzip schützt unter anderem arbeitsvertragliche Regelungen vor einer Verschlechterung durch Betriebsvereinbarungen. Das bedeutet: Individualvertragliche Vereinbarungen haben gegenüber der Betriebsvereinbarung Vorrang, soweit sie eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung enthalten. Dies gilt sowohl für vor als auch für nach dem Inkrafttreten einer Betriebsvereinbarung geschlossene individualvertragliche Vereinbarungen. Durch eine nachfolgende günstigere Betriebsvereinbarung werden einzelvertragliche Regelungen aber nicht abgelöst, sondern sie werden lediglich für die Dauer der normativen Geltung der Betriebsvereinbarung – also einschließlich des Nachwirkungszeitraums – verdrängt.
Ausnahmsweise findet im Verhältnis Arbeitsvertrag / Betriebsvereinbarung nicht das Günstigkeitsprinzip, sondern das Ablöseprinzip Anwendung, wenn der Arbeitsvertrag „betriebsvereinbarungsoffen“ oder mit einer Bezugnahme auf die jeweilige Betriebsvereinbarung ausgestaltet ist. Mit anderen Worten: durch verschlechternde Betriebsvereinbarung kann eine arbeitsvertragliche Regelung wirksam – ohne Verletzung des Günstigkeitsprinzips – abgelöst werden, wenn diese den Vorbehalt einer kollektivrechtlichen Abänderung enthält, also „betriebsvereinbarungsoffen“ ausgestaltet ist. Im Arbeitsvertrag sollte – wenn man das möchte – der hinreichend deutliche Hinweis enthalten sein, dass der Arbeitsvertrag durch spätere Betriebsvereinbarungen auch zu Ungunsten des Arbeitnehmers geändert werden kann („§ … Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen: Zwischen den Parteien besteht Einigkeit darüber, dass zukünftige Betriebsvereinbarungen den Vereinbarungen in diesem Arbeitsvertrag und sonstigen zwischen den Parteien getroffenen Absprachen vorgehen, auch wenn die vertragliche Regelung im Einzelfall günstiger ist.“).
Daneben sind „arbeitsvertragsoffene Betriebsvereinbarungen“ denkbar, also Öffnungsklauseln in der Betriebsvereinbarung, die es erlauben, von der Betriebsvereinbarung– gegebenenfalls auch zu Ungunsten des Arbeitnehmers – abweichende individualvertragliche Regelungen zu treffen. Denn § 77 Abs. IV BetrVG lässt den nachträglichen Verzicht auf Rechte aus Betriebsvereinbarungen mit Zustimmung des Betriebsrates zu. Derartige Regelungen in Betriebsvereinbarungen sind aber in der Praxis selten. Kaum ein Arbeitnehmer wird bereit sein, eine zu seinen Ungunsten von einer Betriebsvereinbarung abweichende arbeitsvertragliche Regelung zu akzeptieren, wenn es einmal eine Betrieebsvereinbarung gibt.
Ach ja, noch etwas: Wirksame Betriebsverereinbarungen setzen voraus, dass ein Betriebsrat vorhanden ist, mit dem der Arbeitgeber die Vereinbarung treffen kann. Immer wieder erlebe ich, dass Arbeitgeber Betriebsvereinbarungen sozusagen mit sich selber abschließen, aushängen und dies dann den Arbeitnehmern als "Betriebsvereinbarungen" verkaufen. Was hier niedergelegt wird, ist natürlich für die Arbeitnehmer im Zweifel nicht bindend, es sei den, es handelt sich um zulässige Weisungen des Arbeitgebers.
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Geschrieben von Felix Thiemann am 13.11.2016 Zurück zur Übersicht ❯